Warum nachhaltiges Leben auch nach Jahren schwer bleibt

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Es gibt diese Momente, in denen ich mir selbst applaudieren möchte. Wenn ich im Supermarkt standhaft am eingeschweißten Obst vorbeigehe. Wenn ich im Urlaub den Zug statt des Flugzeugs buche. Oder wenn ich es schaffe, drei Wochen hintereinander mein Gemüse nicht vergammeln zu lassen. Nachhaltigkeit fühlt sich dann an wie ein kleines, inneres Feuerwerk – bunt, zufriedenstellend, bedeutungsvoll.

Und dann gibt es die anderen Momente.

Momente, in denen ich mir einrede, dass die Paprika im Plastik vielleicht „weniger CO₂ im Transport verursacht“ (was auch immer das heißen soll), oder dass die 40-Minuten-Reisezeitersparnis durch den Kurzstreckenflug ja nun wirklich nicht die Welt verändern kann. Es sind genau diese Szenen, die mich daran erinnern: Selbst nach Jahren ist nachhaltiges Leben kein Zustand, sondern ein ständiges Ringen. Ein Muskel, der immer wieder trainiert werden will – und manchmal einfach müde ist.

Nachhaltigkeit im Alltag: Der innere Schweinehund trägt Fast Fashion

Wenn wir ehrlich sind, beginnt nachhaltiges Leben oft bei Dingen, die niemand sieht. Denen, die wir nicht posten, nicht teilen, nicht stolz herumzeigen. Es ist schwer, „konsequent nachhaltig“ zu leben, weil Konsequenz bedeutet: Die unangenehmen Seiten auszuhalten.

Zum Beispiel beim Konsum. Ich weiß, dass ich eigentlich nichts Neues brauche. Ich predige mir regelmäßig vor, wie gut es sich anfühlt, minimalistisch zu leben. Und dann – ein Sale. Eine Werbung. Ein freundlicher Algorithmus, der sagt: „Das passt zu deinem Stil.“
Und auf einmal bin ich Besitzer eines Gegenstands, der weder geplant noch nötig war, aber wunderschön aussieht.

Die Wahrheit ist: Konsum ist emotional. Und Nachhaltigkeit verlangt Rationalität. Dieses Ungleichgewicht bleibt ein Dauerproblem, egal wie viel man sich mit nachhaltigem Leben beschäftigt. Wir sind Konditionierungen ausgesetzt, die sich über Jahrzehnte festgesetzt haben – und die verschwinden nicht, nur weil wir uns ein paar Dokus angeschaut oder Bücher gelesen haben.

Ernährung: Zwischen Ideal und Kühlschrank-Realität

Ein weiteres Minenfeld: Ernährung.
Theoretisch ist alles einfach. Regional, saisonal, pflanzenbasiert.
Praktisch sieht es so aus: Der Januar ist dunkel, nass und kalt – und die Vorstellung, von Kohl und Wurzelgemüse zu leben, lässt selbst engagierte Nachhaltigkeitsfans kurz verzweifeln.

Ich wollte einmal besonders konsequent sein und den Januar ausschließlich mit saisonalen Zutaten kochen. Nach einer Woche hatte ich mich in einer kulinarischen Endlosschleife aus Steckrübe, Kartoffel und Grünkohl wiedergefunden. Die Motivation war groß, die Stimmung … sagen wir: ausbaufähig.

Und dann gibt es noch den Aspekt des Alltagsstresses. Wer viel unterwegs ist, greift nun mal zum Snack-Regal, zum belegten Brötchen, zur schnellen Bowl. Wir leben in einer Welt, die auf Convenience ausgelegt ist – nicht auf Nachhaltigkeit. Das heißt: Jede nachhaltige Entscheidung ist eigentlich eine bewusste Gegenentscheidung. Und diese mentale Kraft muss erst einmal da sein.

Reisen: Nachhaltigkeit trifft Lebenslust

Ich liebe Reisen. Und genau das macht es kompliziert.

Wir alle kennen den CO₂-Vergleich: Ein Flug verursacht so unglaublich viel Emissionen, dass jeder Nachhaltigkeitsratgeber sofort die rote Karte zeigt. Aber Reisen ist nicht nur Bewegung von A nach B. Es ist Kultur, Inspiration, Erholung, familiäre Nähe, Weite. All das mit einem moralischen Zeigefinger zu belegen, fühlt sich unfair an – und überschätzt manchmal die reine Rationalität von Entscheidungen.

Natürlich gibt es Alternativen. Der Zug nach Italien. Der Nachtzug nach Paris. Der Roadtrip mit E-Auto. Und ja, viele dieser Optionen sind toll. Aber sie sind nicht immer praktikabel, nicht immer günstig, nicht immer verfügbar. Nachhaltigkeit scheitert beim Reisen häufig nicht an fehlender Einsicht, sondern an logistischen Realitäten.

Es ist leicht, über „Flugscham“ zu sprechen – bis man vor der Wahl steht, ob man seine Freunde, Familie oder ein einmaliges Erlebnis verpasst. Nachhaltigkeit kollidiert hier mit etwas zutiefst Menschlichem: dem Wunsch, die Welt zu erleben.

Konsumverzicht: Die Utopie vom perfekten Lebensstil

Nachhaltigkeit ist in den letzten Jahren zum Lifestyle geworden. Bilder von Zero-Waste-Haushalten, makellosen Vorratsgläsern und plastikfreien Badezimmern verbreiten eine Ästhetik, die schnell unterschwellig Druck erzeugt: „Wenn du nicht alles perfekt machst, bist du nicht konsequent genug.“

Aber die meisten von uns leben nicht in einer Loftwohnung mit minimalistischer Kücheninsel, in der alles perfekt in Weckgläser sortiert ist. Wir leben in Wohnungen mit praktischen Einschränkungen, mit begrenzter Zeit, begrenztem Budget und begrenzter Energie. Nachhaltigkeit erfordert Anpassung, nicht Perfektion.

Das Problem: Die Idee des perfekt nachhaltigen Menschen ist ein Mythos. Und gleichzeitig ein Motivationskiller.

Denn wer glaubt, alles richtig machen zu müssen, gibt schneller auf.

Nachhaltigkeit als Prozess statt als Wettbewerb

Nach all den Jahren habe ich eines verstanden: Nachhaltiges Leben ist kein Wettbewerb. Keine Checkliste, keine Disziplin, bei der man irgendwann ein Abzeichen erhält. Nachhaltigkeit ist eine Beziehung – und Beziehungen haben gute und schlechte Tage.

Vielleicht sind wir daher manchmal so hart zu uns selbst. Wir sehen jede Abweichung, jede schnelle Entscheidung, jeden Fehlkauf als Rückschlag. Aber wären wir bei anderen Menschen so streng? Würden wir jemandem, der sich bemüht, vorwerfen, dass er nicht perfekt ist?

Wahrscheinlich nicht.

Warum tun wir es dann mit uns selbst?

Der einzig realistische Weg: Nachhaltigkeit mit Nachsicht

Vielleicht ist die größte Erkenntnis, dass nachhaltiges Leben trotz aller Bemühungen immer schwer sein wird. Wir leben in einer Welt, die für Geschwindigkeit gebaut wurde – nicht für Ressourcenschonung. In einer Wirtschaft, die auf Wachstum setzt, nicht auf Begrenzung. Nachhaltigkeit ist daher immer ein Stück Gegenbewegung.

Die Frage ist nicht: „Wie werde ich perfekt nachhaltig?“
Sondern: „Wie bleibe ich dran – auch wenn’s schwer ist?“

Dafür braucht es:

  • kleine, konsistente Schritte

  • Nachsicht mit sich selbst

  • Freude an den Dingen, die funktionieren

  • Neugier auf bessere Alternativen

  • Gelassenheit angesichts der eigenen Schwächen

Nachhaltigkeit bleibt ein Lernprozess. Ein Weg voller Abzweigungen, Rückschritte und Fortschritte. Und vielleicht ist genau das der Punkt: Dass wir nicht aufhören, uns zu bemühen – selbst wenn der Alltag uns herausfordert.

Am Ende zählt nicht, wie perfekt wir leben. Sondern wie bewusst.

Und wie sind Eure Erfahrungen in den letzten Jahren gewesen? Lasst es uns gerne in den Kommentaren wissen!

Image by Alexandra_Koch from Pixabay

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